Social-Media-Verbot für U16-Jährige? Meinolf Ellers von #UTN im Interview
Brauchen wir in Deutschland ein Social-Media-Verbot für Kinder unter 16 Jahren, wie es in Australien beschlossen wurde? Um diese Frage ist eine kontroverse Debatte entbrannt. In einer Online-Umfrage auf dem Deutschen Schulportal der Robert Bosch Stiftung sprach sich eine Mehrheit der Nutzer:innen für eine Altersbeschränkung aus. Meinolf Ellers, Geschäftsführer von #UseTheNews, erklärt im Interview mit dem Schulportal, warum er gegen ein Verbot ist.
Deutsches Schulportal: In Australien wird die Nutzung sozialer Medien wie TikTok, Instagram oder Snapchat für Kinder unter 16 Jahren verboten. Würden Sie ein solches Gesetz auch für Deutschland für sinnvoll halten?
Meinolf Ellers: Nein. Und ich will auch sagen, warum. Ich denke, Social Media ist, so wie die künstliche Intelligenz auch, Teil einer neuen digitalen Realität, der wir uns stellen müssen. Die Antwort darauf kann aus meiner Sicht nur ein Dreiklang sein. An erster Stelle sollte dabei das Primat der Pädagogik und der Erziehung stehen. Wir können uns nicht wegducken. Es ist unsere Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen stark zu machen im Umgang mit diesen unendlichen neuen Möglichkeiten. Zweitens ist es wichtig, genau hinzusehen, wo es bei den Social-Media-Anbietern Fehlentwicklungen gibt. Und wenn es diese Fehlentwicklungen gibt, brauchen wir möglicherweise auch eine Regulierung gesetzlicher Art. Aber Verbote als dritte Option sind aus meiner Sicht immer das letzte Mittel. Und ich würde auch sagen, ein Verbot ist immer die schlechteste Variante, die uns zur Verfügung steht.
In Australien wird das Social-Media-Verbot mit einer Suchtgefahr und mit schädlichen Inhalten, die über die sozialen Medien verbreitet werden, begründet. Sehen Sie diese Gefahren nicht?
Doch, absolut. Ich denke, niemand kann die Gefahren und die Schattenseiten bestreiten, genau wie bei der künstlichen Intelligenz auch. Ich greife nur ein Thema heraus, das uns bei #UseTheNews und im „Jahr der Nachricht" massiv beschäftigt: Das ist die enorme Rolle, die Social Media bei der Verbreitung von Desinformation und Fakes spielt. Gerade Kinder und Jugendliche sind dieser Wucht von böswilliger Desinformation und Manipulation zum Teil hilflos ausgesetzt. Das ist ein Faktum.
Aber auf der anderen Seite gilt eben auch, dass wir es mit einem neuen Kosmos zu tun haben. Und wenn wir in diesem Kosmos bestehen wollen, dann werden wir mit den Rezepten der alten Offlinewelt nicht weiterkommen. Das heißt, wir müssen diese neuen Welten verstehen, wir müssen sie erkunden, und zwar gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen! Das können wir nicht mit einem Verbot in irgendwelchen abgeschlossenen Laboratorien machen.
#UseTheNews wird beispielsweise zusammen mit dem Leibniz-Institut für Medienforschung eine Studie durchführen, um aus der Perspektive der Jugendlichen zu verstehen, wo die Suchtfaktoren liegen bei TikTok und welche Rolle die Plattform in ihrem Lebensalltag spielt. Wo sind denn die verlockenden, attraktiven Punkte, die die Jugendlichen reinziehen? Warum ist es so schwer, an einer bestimmten Stelle aufzuhören? Welche Inhalte sind es, die einen dann wieder fesseln? All das können wir nur gemeinsam mit den Jugendlichen verstehen. Auf der Basis dieser Daten und Erkenntnisse können wir dann entscheiden, an welchen Stellen möglicherweise eine gesetzliche Regulierung der Anbieter nötig ist.
In einer Online-Umfrage auf dem Deutschen Schulportal haben sich 87 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer für ein Social-Media-Verbot ausgesprochen. Wie erklären Sie sich diese hohe Zustimmung von Menschen, die größtenteils an Schulen arbeiten? Sind Lehrkräfte überfordert mit der Vermittlung von Medienkompetenzen?
Ich denke, genauso ist es. Wir sehen in unserer Arbeit an Schulen, dass es beim Umgang mit den digitalen Medienwelten, insbesondere mit Social Media, aber auch mit KI, eine unglaubliche Überforderung und Hilflosigkeit gibt. Wir hören von den Lehrkräften, dass sie einerseits kaum Zeit haben bei Lehrkräftemangel und Unterrichtsausfällen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Andererseits fühlen sich viele auch unwohl auf diesem Terrain, weil sie sich ja selbst nicht auf den Plattformen der Jugendlichen bewegen. Es gibt häufig Ängste, bei diesem Thema von den Schülerinnen und Schülern vorgeführt zu werden.
Darauf versuchen wir mit unseren Angeboten speziell zur Vermittlung von Nachrichten- und Informationskompetenz zu reagieren. Aber genauso deutlich appellieren wir auch an die Bildungspolitik in Deutschland und an die Kultusministerkonferenz, dem etwas entgegenzusetzen. Es kann nicht sein, dass wir uns in Verbote flüchten, um auf diese Überforderung und Hilflosigkeit zu reagieren.
"Es kann nicht sein, dass wir uns in Verbote flüchten, um auf diese Überforderung und Hilflosigkeit zu reagieren."
Mit #UseTheNews engagieren Sie sich für die Vermittlung von Nachrichtenkompetenz, Sie haben 2024 zum „Jahr der Nachricht“ gemacht und sogar ein eigenes Social-Media-Angebot für Jugendliche entwickelt. Welche Erfahrungen machen Sie bei dieser Arbeit mit den Jugendlichen?
Vor dem Hintergrund der internationalen und nationalen politischen Ereignisse ist noch einmal klarer geworden, dass wir Nachrichtenkompetenz fast gleichsetzen können mit Demokratiekompetenz. Es geht darum, sich faktenbasiert auf Basis von vertrauenswürdiger Information eine Meinung zu bilden. Ohne diese Fähigkeit ist der Mensch nicht diskursfähig und handlungsfähig in der Demokratie.
Wir haben 2024 deshalb mit „Social News Daily“ ein Experiment gestartet. Dahinter steht eine kleine Redaktion von jungen Social Media Content Creators und Journalistinnen und Journalisten, die jeden Tag ein Nachrichtenthema so erzählt, dass es 14- bis 18-Jährige verstehen. Ausgangspunkt ist dabei immer die Frage, was dieses Thema mit meinem Leben zu tun hat. Unsere Hauptaufgabe ist, die Entfremdung zwischen der von den sozialen Medien geprägten nachwachsenden Generation und dem Informationsjournalismus zu heilen und beide Seiten wieder zusammenzubringen.
Das bedeutet viel pädagogische Arbeit. Es bedeutet aber auch einen hohen Veränderungsdruck für Journalismus und Medien, was die Beteiligung der jungen Menschen angeht. Wir müssen lernen, zuzuhören. Wir machen mit #UseTheNews zum Beispiel Modellprojekte mit Schulklassen und Lokalredaktionen. Die Jugendlichen suchen sich ein Zukunftsthema der Region und werden dann unter Anleitung von Reporterinnen und Reportern selbst aktiv – ausschließlich mit dem Smartphone, über Audio und Video. Alles, was wir bei #UseTheNews tun, um Jugendliche für Information und Nachrichten zu gewinnen, muss auf Augenhöhe auf ihren Plattformen zu ihren Bedingungen und mit ihren Mediennutzungsgewohnheiten passieren. Das alte Sender-Empfänger-Prinzip der Medien funktioniert nicht mehr, journalistischer Inhalt entsteht im Zusammenspiel mit der Community, im Dialog.
Unsere Haltung ist, die Jugendlichen ernst zu nehmen, mitzunehmen, stark zu machen. Ein Verbot, wie wir es hier diskutieren, bewirkt das Gegenteil. Wie erfolgreich wäre es wohl gewesen, wenn in den 60er-Jahren ein klassisch ausgebildeter Musiklehrer versucht hätte, den Jugendlichen die Stones oder Beatles zu verbieten? Da gilt der alte Spruch von Victor Hugo: Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Die Anziehungskraft der digitalen Welten ist da, sie ist nicht zu negieren. Jetzt müssen wir die Regeln finden, um uns darin zurechtzufinden.
"Unsere Haltung ist, die Jugendlichen ernst zu nehmen, mitzunehmen, stark zu machen. Ein Verbot, wie wir es hier diskutieren, bewirkt das Gegenteil."
Welche positiven Effekte sehen Sie, wenn Jugendliche soziale Medien nutzen?
Wenn man die nüchternen Zahlen betrachtet, dann ist die Wirkung von digitalen Plattformen im Vergleich zu den klassischen analogen Plattformen, wenn es um Information oder Kommunikation geht, um ein Mehrfaches stärker. Aber was verstärken wir? Verstärken wir damit konstruktive und kreative Impulse oder verstärken wir destruktive und konsumtive Impulse? Wir erleben beides. Die Frage wird sein, wie wir es schaffen, beispielsweise durch Pädagogik und Anleitung, die konstruktiv kreativen Impulse stärker zu machen und in den Vordergrund zu rücken.
Viele sehen derzeit allerdings die andere destruktive Seite im Vordergrund, die durch Algorithmen von den Anbietern gesteuert wird, könnte hier eine Reglementierung nicht hilfreich sein?
Reglementierung findet auf einer anderen Ebene statt. Dafür haben wir in der Europäischen Union Instrumentarien, zum Beispiel den „Digital Services Act“ oder auch den „Digital Markets Act“. Wenn wir die Gefahren von Plattformen beurteilen wollen, hilft meiner Ansicht nach meist die alte Regel „follow the money“. Wenn die Plattformen aus den USA kommen und an der Wall Street börsennotiert sind, dann geht es um die Frage, wie man daraus Profit macht. So sehen wir das bei Meta, und so haben wir das bei Google gesehen.
Im Falle von TikTok ist die Sache anders, denn dahinter steht kein amerikanischer, sondern ein chinesischer Konzern. Die Agenda, mit der der Algorithmus gesteuert wird, kennen wir nicht, wir können nur spekulieren. In der politischen Diskussion haben nicht wenige Menschen darauf hingewiesen, dass es den Absendern in Peking wahrscheinlich nicht darum geht, die Jugendlichen für Freiheit und Demokratie zu begeistern. Wenn es Dinge gibt, die im System angelegt sind, um Kinder zu manipulieren, dann ist Brüssel in der Verantwortung. Das kann nicht durch ein Verbot in einem einzelnen Land geregelt werden.
Mir ist jedoch der pädagogische Ansatz wichtig. Wir können hier dazu beitragen, durch Medienbildung solche Mechanismen zu durchschauen. Immer wieder kritisch zu hinterfragen, wer will was mit dieser Plattform oder mit dieser Nachricht erreichen? So können wir konkret wirksam werden.
Obwohl die Vermittlung von Medienkompetenz fächerübergreifend vorgesehen ist, fehlt den meisten Lehrkräften die Ausbildung. Brauchen wir dafür Expertinnen und Experten an den Schulen?
Ja, wir brauchen Lehrkräfte, die speziell dafür qualifiziert sind – nicht etwa als Informatiklehrkräfte, sondern Medienpädagoginnen und Medienpädagogen. Unsere Erfahrung zeigt: Sobald in einer Schule oder in einem Schulprojekt Medienpädagoginnen und Medienpädagogen beteiligt sind, funktionieren die Dinge sofort um ein Vielfaches besser. Warum? Weil dies Intermediäre zwischen dem Journalismus, den digitalen Medienwelten und der Pädagogik sind. Nachrichten- und Informationskompetenz hat nichts mit technischen Kompetenzen zu tun, es geht darum, über Quellen Bescheid zu wissen, Absichten zu verstehen, Absender zu erkennen. Auch der Umgang mit der Suchtgefahr gehört da selbstverständlich in die Ausbildung mit rein.
Journalistinnen und Journalisten, die in Klassen gehen, finden oft nicht die didaktischen Zugangsmöglichkeiten zu den Jugendlichen. Auf der anderen Seite haben wir Lehrkräfte, die sich unwohl fühlen auf diesem Terrain. Medienpädagoginnen und Medienpädagogen können diese Lücke schließen. Das können Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger mit journalistischem Hintergrund sein, die pädagogisch ausgebildet werden. Oder umgekehrt Lehrkräfte, die eine journalistische Zusatzqualifikation erhalten.
Dieses Interview wurde zuerst im Dezember 2024 auf dem Deutschen Schulportal der Robert Bosch Stiftung veröffentlicht.