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Zensur und Vernebelung: Wie gut funktionieren Presse und Journalismus in Russland (noch)?

Aus der Community für junge Medieninteressierte: NewZee Jolan Geusen berichtet über das Treffen mit Ulrike Gruska, Expertin für Osteuropa und Pressereferentin bei Reporter ohne Grenzen.

2022-06-02 — Jolan Geusen

TikTok-Videos von Raketenangriffen, Auslandskorrespondent:innen, die ein Land verlassen müssen und viele unbestätigte Informationen: Der Krieg in der Ukraine stellt verschiedene Medien und Journalist:innen vor alte und neue Herausforderungen. Zur Berichterstattung gehören nicht nur Liveschalten aus der Ukraine, sondern auch Berichte über den Konfliktpartner und die innenpolitische Lage in Russland. Doch besonders in den letzten Monaten hat sich die Pressefreiheit in Russland noch einmal erheblich verschlechtert. Laut der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (kurz RSF), die sich weltweit für Pressefreiheit einsetzt und aktuell auch Journalist:innen aus der Ukraine und Russland unterstützt, steht das von Putin regierte Land in der Rangliste der Pressefreiheit mittlerweile auf Platz 155 von 180. Wie ist es da gelandet? 

 

Im Rahmen unseres NewZee-Treffens am 14. März konnten wir unter anderem diese und viele weitere Fragen direkt an eine Vertreterin von Reporter ohne Grenzen richten. Die Journalistin Ulrike Gruska, Expertin für Osteuropa und Pressereferentin bei Reporter ohne Grenzen, war zu Gast, um mit uns über den Ukraine-Krieg und vor allem die Situation von Presse und Journalismus in Russland zu sprechen. 

Informationen und Wahrheit

 

„Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit.“ Das häufig genannte Zitat, das auch Ulrike anfangs verwendete, verdeutlicht die Schwierigkeiten in der Kriegsberichterstattung: Journalist:innen müssen sich immer wieder fragen: Kann ich diesen Informationen wirklich trauen? Welche Informationen sind veraltet? Welche Informationen sind schlichtweg falsch oder Desinformation?

 

Aber auch Konsument:innen von Nachrichten und Informationen stehen in der Pflicht: Stichwort Medienkompetenz. Ich habe mich selber dabei ertappt, wie ich einige Stunden durch Twitter scrollte, ein Video zu den Kriegshandlungen nach dem anderen anschaute und mit dem endlosen Lesen negativer Nachrichten, sogenanntem „Doomscrolling“, gar nicht mehr aufhören konnte. 

 

Durch den eigenen Twitter-Feed zu scrollen, ist für die Menschen in Russland mittlerweile nicht mehr möglich. Ausländische Medienkonzerne wie Twitter oder Meta wurden in Russland gesperrt. Andere Dienste zogen sich aufgrund der neuen Gesetzeslage und drohender Haftstrafen aus dem Land zurück. Darin sieht Ulrike Gruska ein erhebliches Problem: „Die Gefahr besteht, dass das letzte kleine Fenster zu unabhängigen Informationen geschlossen wird.“ 

 

Die Bevölkerung habe dann kein wirkliches Angebot mehr, um sich unabhängig zu informieren. Denn russische Medien können zu großen Teilen nicht unabhängig berichten und unterliegen der Aufsicht durch russische Behörden. Ein Grund dafür, weshalb Russland in der Rangliste so schlecht abschneidet.

Wie Russland dort gelandet ist

 

Nach dem Zerfall der Sowjetunion beobachtete Reporter ohne Grenzen zwar zunächst eine freiere und unabhängigere Arbeit von Presse und Journalist:innen. Doch seit Putins Präsidentschaft bestimmen starke Einschränkungen und Zensur die journalistische Arbeit. Wie Ulrike Gruska berichtete, wurden erst Printmedien und Rundfunkmedien „linientreu gemacht”. Das Internet blieb vorläufig der einzig freie Raum für Journalismus. 

 

Zu Beginn von Putins Präsidentschaft waren der Einflussbereich und die Reichweite von Online-Medien in Richtung Gesellschaft allerdings noch nicht so stark wie heute. Doch seit 2011 verzeichnet RSF auch Beschränkungen der Meinungsfreiheit im Internet, die 2021 durch weitere Einschränkungen unabhängiger journalistischer Arbeit und User:innen sozialer Medien ergänzt wurden.

 

In diesem Kontext nannte Ulrike Gruska beiläufig ein interessantes Detail. Der Pressefreiheitsindex der Ukraine (Platz 106) ist ebenfalls nicht unproblematisch. In der Vergangenheit sei dort zum Beispiel das russische Fernsehen abgeschaltet worden, um auf russische Propaganda zu reagieren. Faktenchecks hätten unsauber gearbeitet und Informationen nicht richtig eingeordnet.

Unabhängige russische Medien, aber wo?

 

Seit Anfang März haben Reporter ohne Grenzen zufolge etwa 500 bis 700 Journalist:innen Russland verlassen. Das sei der Kern der unabhängigen Berichterstattung. Kann die russische Bevölkerung überhaupt noch an neutrale, unzensierte Informationen gelangen? Instagram, Facebook und Twitter wurden gesperrt. Russische Netzwerke, wie VK, mit deutlich höheren Nutzer:innenzahlen als die ausländischen Plattformen werden stark kontrolliert und überwacht. 

 

Entscheidend für große Teile der russischen Bevölkerung sind laut Ulrike Gruska zwei Netzwerke, die auch in Deutschland häufig genutzt werden: Telegram und YouTube.

Besonders YouTube könne unabhängiger Berichterstattung noch eine Plattform bieten. 

Nicht nur die Relevanz dieses Mediums hat mich überrascht, sondern auch die potentiellen Übermittler:innen von kritischen und geprüften Inhalten. Der Pressereferentin von RSF zufolge sind das nämlich Vlogger:innen wie Yury Dud mit einer millionenschweren Reichweite. 

 

Yury Dud führt unter anderem Interviews, die sich kritisch mit Russlands Politik auseinandersetzen. Dabei sei er nicht korrumpierbar wie andere Medienvertreter:innen, weil er durch seinen Kanal bereits über erhebliches Eigenkapital verfüge, wie Ulrike Gruska einschätzt. „Es wird spannend, wie die Bevölkerung reagiert, falls YouTube und Telegram auch abgeschaltet werden.”, äußert sie sich.

Wie kann man Menschen von der Wahrheit” überzeugen?

 

Diese Frage gilt nicht nur im Kontext des Ukraine-Kriegs. Sie zeigt ein Problem, ein Dilemma auf, das sich nur schwer lösen lässt. Auch ich habe mir diese Frage öfter gestellt. Nicht im Kontext der Kriegssituation, sondern während der ersten Querdenken-Proteste. Das Grundproblem bleibt aber dasselbe: Man braucht eine gemeinsame Faktenbasis. Vertraut die Mehrheit der russischen Bevölkerung auf das Staatsfernsehen, so lasse sich daran nur schwer etwas ändern, denkt auch die Pressereferentin von RSF. Die Desinformationsstrategie und „hybride Kriegsführung” des Kremls erschwere das umso mehr. 

 

Die abschließenden Worte von Ulrike Gruska sind mir nachdrücklich in Erinnerung geblieben. Ihr Plädoyer für einen Blick über Europa hinaus: „Auch wenn die Solidarität für russische und ukrainische Journalist:innen aktuell sehr groß ist – es werden Jobs und Unterkünfte angeboten – dürfen wir dabei andere Kriegsgebiete nicht vergessen.“ Am Ende steht ihr Schlussappell, der zugleich die Relevanz, aber auch Verletzlichkeit von gutem Journalismus verdeutlicht. Unabhängiger Journalismus hat seinen Preis. Aber durch finanzielle Unterstützung kann jede:r von uns unabhängigen Journalismus unterstützen und einen eigenen Beitrag leisten. Die Situation der Journalist:innen in Russland sollte uns vor Augen halten, wie wichtig freie, differenzierte und unabhängige Berichterstattung für politische Einstellungen und demokratische Grundwerte ist.